Interview mit Prof. Dr. Volker Ladenthin, Professor für Allgemeine und historische Erziehungswissenschaft an der Universität Bonn
Sie sind als Universitätsprofessor gegen G8?
Darf ich mit einer schlichten Gegenfrage antworten: Welchen Sinn macht es, Abiturienten an der Universität einzuschreiben, die zuerst Vor- oder Brückenkurse an der Universität absolvieren müssen, damit sie überhaupt mit dem Studium beginnen können? Was soll dann noch das Abitur? Inzwischen richten fast alle Fächer Kurse zwischen gymnasialer Oberstufe und Universität ein. Es entsteht gewissermaßen eine neue Schulart: Die Vor-Uni. Kollege Volkmar Gieselmann, Prorektor für Studium, Lehre und Studienreform an der Uni Bonn (und Naturwissenschaftler), sagt das ganz konkret: "Man muss die Lehrpläne in den Schulen besser auf die Bedürfnisse der Hochschulen abstimmen".
Aber ist G8 nicht ein Sparprogramm? Es hilft Steuern sparen.
Mir ist unklar, wie man das rechnet: Wenn Studierende nunmehr von kostspieligen Hochschullehrer improvisiert das beigebracht bekommen, was Lehrer im ökonomisch günstigeren Schulzusammenhang nicht mehr lernen konnten, weil die Zeit zu knapp war – wo wird da gespart? Es ist die gleiche Lernzeit – nur sind die Lehrkräfte wesentlich teurer. Und die Gesamtausbildungszeit bleibt wie zuvor.
Nun zeigen aber empirische Untersuchungen, dass G8 und G9-Schüler die gleichen Kompetenzen haben.
Ja, aber welche sind der Maßstab? Keinesfalls die Fähigkeiten und Kenntnisse, die man zum Studieren braucht. Ich kann Ihnen anhand von Klausuren der letzten 3 Jahre belegen, dass bei völlig gleichen Ansprüchen die Ergebnisse schlechter werden – obwohl ich in der Lehre immer mehr Zeit auf Klausurvorbereitung verwende. Fähigkeiten, die vor ein paar Jahren die Mehrheit der Studierenden hatten, fehlen heute völlig.
Welche zum Beispiel?
Eigenständige Textanalyse. Textwiedergabe. Strukturierte Zusammenfassungen. Beschreibung von einfachen Vorgängen (Versuchsaufbau). Eigenständige Formulierungen antinomischer, paradoxer oder multikausaler Zusammenhänge...
.... danke, danke! Und wie erklären Sie sich das?
Zwei Gründe sehe ich. Die Studierenden sind so jung, dass bestimmte kognitive Operationen noch nicht geleistet werden können. Abstraktionsfähigkeiten fehlen deutlich. Das ist ein Entwicklungsproblem. Zudem scheint Schule auf Grund des Zeitmangels eben diese Fähigkeiten, die man nur in einem längeren Zeitraum schulen kann, nicht mal so eben für eine Klausur, nicht mehr zu lehren. Offensichtlich fehlt die Zeit für gründliches Lernen.
Sind die Studenten also schlechter als früher?
Nein, sie sind liebenswürdig, freundlich, fleißig, bemüht – aber sie werden dann an der Uni zugleich völlig frustriert, und zwar ganz tief frustriert, wenn sie merken, dass sie trotz Abiturnote „Eins-Komma-nochwas" schon in den Grundlagenkursen nicht mehr folgen können. Ihnen fehlt es an Arbeitstechniken, an kognitiv-sprachlichem Vermögen und an anspruchsvollen kognitiven Operationen, die die Wissenschaften heute abverlangen. Und an Wissen. Sie kennen die Bildsprache unserer Kultur nicht mehr. Sie haben nichts von dem wirklich gelesen, was unserer Kultur Identität gibt.
Aber die Grundkompetenzen sind doch vorhanden.
Ich weiß nicht, was man darunter verstehen will. Ich weiß nur, dass Abstraktion, Analyse und Synthese kognitive Operationen sind, die in den Wissenschaften unverzichtbar sind und von den heutigen G8 Studierenden nicht mehr eigenständig erbracht werden könnten. Nicht mal Hilfen helfen – und zwar deshalb, weil die kognitive Entwicklung der Studierenden noch nicht so weit entwickelt ist, dass diese Operationen möglich sind. Man kann und konnte das bei Piaget in allen Einzelheiten nachlesen, warum das so ist – und was man machen kann, um hier Abhilfe zu schaffen. Ein Jahr Schule mehr gibt mehr Raum zur Entwicklung und zum Üben von kognitiven Operationen. Eine entwicklungspsychologisch argumentierende Schulplanung wird das berücksichtigen. Stichwort: Gehirngerechtes Lernen.
Aber brauchen wir nicht jüngere und mehr Abiturienten?
Was wir brauchen, sind gute Abiturienten. Nicht das Plansoll gibt die Zahl der Abiturienten vor, sondern umgekehrt: ein Leistungsstandard zeigt, wie viele Abiturienten wir haben. Man kann Menschen nicht durch Zielvereinbarungen klüger machen. Die Statistiker bestätigen allerdings, dass es diesen Versuch gibt. In Hessen hat sich zwischen 2009 und 2013 der Abiturnotendurchschnitt von 2,46 auf 2,42 verbessert und die Ergebnisse der G8 Schüler sind besser als die der G9-Schüler; zudem ist die Rate der Abizeugnisse mit Note 1,0 von 1,2 auf 1,6 % gestiegen. Kurz: In Hessen werden bei verkürzter Schulzeit die Qualifikationen besser! Die NRW Landesregierung hat auf eine Anfrage der Opposition angegeben, dass sich die Zahl der 1er Abiturzeugnisse in NRW zwischen 2007 und 2011 sogar verdoppelt hat. Wenn das so weiter steigt, haben in einigen Jahren alle Abiturzeugnisse die Note 1. Und das bei verkürzter Schulzeit. Macht man sich hier nicht etwas vor?
Ihre Forderung?
Mehr Zeit für Schule. Mehr Bildung – und nicht beziehungslose Kompetenzschulung. Die nützt niemandem. Wir leben länger, im Durchschnitt fast zwanzig Jahre länger als noch vor 40 Jahren – also haben wir auch mehr Zeit für die schulische Ausbildung. Wer das nicht möchte, kann Klassen überspringen, sich vorzeitig zum Abitur melden oder schon während der Schulzeit studieren: da gibt es genügend Modelle. Für die große Zahl benötigen wir mehr Zeit. Kurz: G9 war das bessere Modell.