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G8 Bildungspolitik: mit Widersprüchen ins argumentative Abseits

G8 Befürworter verwickeln sich immer mehr in argumentative Widersprüche – diese sind um so zahlreicher, je weniger deren Vertreter etwas von Schule und Schulforschung verstehen. Wer vernünftig entscheiden will, kann nur zu dem Schluss kommen, dass die Wiedereinführung von G9 die einzig sinnvolle Maßnahme ist. Durch PISA hat die deutsche Öffentlichkeit jahrelang lernen müssen, dass man die Bildungsunterschiede zwischen verschiedenen Ländern auch in Schuljahren angeben kann. Da hörte man, dass der „durchschnittliche Unterschied zwischen Deutschland und Finnland ein halbes Schuljahr“ betrage. Oder: Schüler aus „bildungsfernen Elternhäusern“ in Deutschland hinken den Gymnasiasten mit Abständen hinterher, „die zwei Schuljahren entsprechen“. Oder: Der Unterrichtsausfall addiere sich zu „einem Jahr Schule“. Die logische Folgerung aus solcherlei Verlautbarungen ist klar: es kommt auch darauf an, wie lange man zur Schule geht. Deswegen ist G9 sinnvoll, sonst hinkt man hinterher. Gleichzeitig wird der Öffentlichkeit immer wieder eingehämmert, dass es für den globalisierten Wettbewerb darauf ankommt, das Bildungsniveau zu steigern. Schließlich seien wir ja bei PISA nur durchschnittlich. Und nun? Angesichts dieser eindeutigen Argumentationslage wollen die G8 Befürworter mal eben locker auf ein ganzes Jahr Schule verzichten. Kommt es also doch nicht auf die Schuljahre an?

Eilfertig kommen nun die Empiriker auf die Bühne und behaupten, dass die G8 Abiturienten genauso gut mit dem Studium zurecht kommen wie die G9 Schüler. Und schließlich würden in den östlichen Bundesländern die Schüler ohnehin nach 8 Jahren mit der Schule fertig sein und genauso tüchtig wie ihre Mitstudierenden aus dem Westen sein. Kann das stimmen?

Empirische Untersuchungen, die behaupten, dass man nach 8 Schuljahren genauso viel kann wie nach 9, können daraus eigentlich nur den Schluss ziehen, dass in ihrer Stichprobe im 9. Schuljahr so gut wie nichts mehr gemacht wurde, man also ein Jahr verschenkt hat. Ein desaströses Ergebnis für jene, die im 9. Schuljahr unterrichtet haben - offenbar haben sie den Unterricht ausfallen lassen oder gefaulenzt. Solche empirischen Untersuchungen zeigen nie, was man hätte aus G9 machen können. Dass etwas nicht funktioniert, ist kein Grund zu der Annahme, dass es nie funktionieren würde. Wer G8 fordert, verschenkt damit definitiv eine einmalige Chance zur Verbesserung der Allgemeinbildung. Auch das ist ein Widerspruch gegen eine konsistente Argumentation mit empirischen Daten. Auch in den östlichen Ländern gilt empirisch - mit einem weiteren Jahr Schule läßt sich, wenn man das Jahr richtig nutzt, die Qualität weiter verbessern. Und das gilt auch für jedes Ausland mit G8, G7 oder G6.

Übrigens: man könnte natürlich auch Fünfzehnjährige schon an die Uni schicken, gewissermaßen G6 einführen, wenn man die zu besuchenden Vorlesungen richtig auswählt. Jedes Fach, zumal in den Geistes- und Sozialwissenschaften, enthält Lehrveranstaltungen, in denen die geistigen Herausforderung so niedrig sind wie die norddeutsche Tiefebene. Das bedeutet: keinerlei geistige Steigung, keinerlei Anstrengung, lediglich neuartige Begriffe, Theorien und Fakten, die wie im Zoo vorgestellt werden ( „Und dann gibt es noch...“) – zahlreiche aufgeweckte Schulpraktikanten (Schüler im Alter von 15 Jahren, die an der Uni ein Praktikum machen) haben gezeigt, dass sie der einen oder anderen Lehrveranstaltungen hervorragend folgen konnten. Schule war und ist oft anstrengender als ein Studium. Die Gegenstände sind bloß anders und sie liegen vielen nicht, die besser einen Hauptschul- oder Realschulabschluss gemacht hätten, aber aus Bildungsdünkel oder falsch genährten Erwartungen an das Leben und den Verdienst es nicht getan haben. Die Prüfungen für eine Elektronik Fachverkäuferin sind oft anstrengender als eine Uni Prüfung. Daraus folgt unmissverständlich: für die Qualität der Allgemeinbildung, für die basalen geistigen Fähigkeiten und ihr Niveau kommt es auf eine gediegene, also neunjährige gymnasiale Schulzeit an. Damit Deutschlands Abiturienten mit einem höheren Allgemeinbildungsniveau ein anspruchsvolles Studium beginnen können. Ein Schuljahr mehr bringt ein Schuljahr mehr an Qualität. Es sei denn, man tut in diesem Jahr nichts Sinnvolles....

Dass manche empirischen Untersuchungen bei den G9 Abiturienten keinen sonderlichen Leistungsvorsprung vor G8 Abiturienten feststellen, ist also offenbar der unsinnigen Nutzung eines weiteren Jahres Schule geschuldet. Man kann in einem Jahr eine Menge lernen und sich geistig weiter entwickeln - das dürfte auch dem Laien verständlich sein. Man kann die Unterrichtsmethoden ziemlich genau benennen, die diesen Null Effekt eines weiteren Schuljahres bewirkt haben könnten. Seit John Hatties Zusammenstellung von rund 70 Tausend Untersuchungen zum guten Unterricht weiß man, dass die lange Jahrzehnte gepriesenen selbstständigen Lernmethoden und die Gruppenarbeits - Orgien in deutschen Schulen offenbar nicht die Methoden zur Erzielung von hoher Leistung waren. Auch hier also ein Widerspruch: man fordert Bildungsqualität, wählt aber Methoden aus, die dazu nicht geeignet sind. Und noch ein Widerspruch: man schickt die Abiturienten in jüngeren Jahren auf die Uni - wo sie dann länger brauchen, also das fehlende Jahr auf der Uni quasi nachholen. Übrigens: ein Jahr Schule würde ca. 5600€ kosten, ein Jahr Studium 8400€. Von Spareffekt kann also gar keine Rede sein, wenn man ein Jahr kürzer in der Schule ist, aber Jahre länger an der Uni.

Wie konnte es zu solchen Widersprüchen kommen? Die Idee, Schüler früher einzuschulen (Schule ab 5 Jahre) und früh wieder rauszuschicken (G8) ist eine plausible Überlegung, wie man den demographischen Knick überwinden kann. Die jungen Menschen sollen früher ins Arbeitsleben eintreten und sollen, so die Theorie, lebensalterlich später aufhören. „Schuleintritt mit 5 Jahren“ gehört in dieselbe Schublade wie „Rente/Pension mit 70“. Gleichzeitig kann der demographische Knick durch Zuwanderung in erheblichem Ausmaße (etwa 30 Millionen rechnet man zur Zeit), aufgefangen werden. Welche Probleme und Nachteile alle diese Maßnahmen mit sich bringen, erleben wir in diesen Tagen sehr deutlich. Der Schuleintritt mit 5 Jahren erwies sich und erweist sich heute immer noch als empirisch völlig ungeeignet, um die Qualität zu steigern. So wird es denn auch mit G8 enden: die jungen Menschen werden nicht früher in das Arbeitsleben eintreten, zumal an den Hochschulen etwa 30 % der Studienbeginner ihr Studium vorzeitig abbrechen. Die demographische Argumentation übersieht die alles entscheidende Maßnahme: zur Überwindung des demographischen Knicks kommt es in erster Linie auf eine hoch qualifizierte Bildung an, die man nicht dadurch schmälern darf, dass man ein Jahr Schule wegfallen lässt. Ein Jahr Schule macht ein Jahr mehr Qualität.

Der Versuch, durch G8 die gleiche Qualität wie mit G9 zu erzeugen ist in NRW ohnehin gescheitert. In NRW gibt es eine Initiative, G9 jetzt! NRW, die Druck ausübt, um eine Rückkehr zu G9 zu erwirken. Die Reaktion der Landesregierung darauf ist, G8 leichter zu machen, d.h. weniger Qualität zu verlangen. Das ist ein spätes Eingeständnis einer früheren Fehlentscheidung: G8 bekommt man nur mit Qualitätssenkung.

Ein Jahr Schule mehr macht auch außerschulisch Sinn. Das Jahr erlaubt ein Mehr an außerschulischer Bildung. Zu Zeiten von G9 hatten die Schüler und Schülerinnen ausreichend Gelegenheit, auch ihre außerschulisch relevanten Fähigkeiten (die als non formale oder informelle Bildung immer einen erheblichen Teil zur Bildung eines Menschen beiträgt) zu vertiefen. Mit Recht weisen die zahlreichen „Volksinitiativen“ und Schülervertretungen der Parteien zur Wiedereinführung von G9 darauf hin, dass auch die außerschulische Pädagogik mit G8 massiv zerstört wird. Gleichzeitig zerstört man einen kulturelle Eigenheit des deutschen Gesellschaftssystems, das sehr stark vom Vereinsleben und von außerschulischen Bildungsanbietern geprägt wird, wie man es in den angelsächsischen Ländern kaum kennt. Die Empirie ist hier auch ganz eindeutig: informelle und nonformale Bildung steigert die Qualität der Kompetenzen. Das zukünftige Leben in einer globalisierten Gesellschaft besteht nicht nur aus scoliformen (schulähnlichen) Arbeitsweisen und Inhalten. Die ungeplanten Elemente der ganzheitlichen Bildung eines Menschen außerhalb der schulischen Institutionen, die für den Erfolg einer Gesellschaft grundlegend wichtig sind, werden auf diese Art und Weise eliminiert. Schule muss um selbstbestimmte Bildungs- und Entwicklungszeit in außerschulischen Kontexten ergänzt werden, wenn sie Qualität steigern will.

Für pubertierende Schüler und Schülerinnen, die zwischen 11 und 16 Jahren z.B. an Schulmüdigkeit leiden, die aber später Hervorragendes leisten könnten, ist die Einführung von G8 natürlich ein gigantisches Hindernis, wenn nicht gar das Bildungs - k.o.. Gerade auf solche Menschen, die auch in ihrer Jugendzeit schon bewiesen haben, dass sie durch Schwächeperioden und Krisen hindurch gehen können, bietet G8 keine Chancen mehr.

Einen besonderen Widerspruch leistet sich das größte Bundesland Nordrhein- Westfalen, in dem es G8 an Gymnasien und ein G9 Abi an Gesamtschulen fördert, d.h. hier wird von einer rot-grünen Koalition ein Zwei-Klassen-Abitur konstruiert, eines für die Kinder aus bildungsnahen Elternhäusern (G8) und eines für den Rest. Hiermit wird eine Zweiklassengesellschaft bereits in jungen Jahren etabliert und es wird nicht lange dauern, dass man das eine Abi für das Elite-Abi und das andere für das „bac poubelle“ (das „Mülleimer Abitur“ wie es in Frankreich heißt) hält. Das wäre ein weiterer Widerspruch für eine rot - grüne Regierung, deren Kultusministerin sich vor Jahren noch deutlich für G9 positioniert hat. Auch das ein Widerspruch.

Es wird modern, dass die Politik immer leichter und leichtfertiger mit Widersprüchen umgeht, d.h. sie nicht ernst nimmt, bloß verteufelt bzw. belächelt. Es geht zunehmend auch in anderen Fragen, z.B. der Zuwanderung, lediglich darum, Gesinnung und eine Argumentation nach Stimmungs- und Medienlage zu produzieren und dafür „Flagge zu zeigen“, so als wäre man auf der Landesmeisterschaft der „Nordrheinwestfälischen Fahnenschwenker - Vereinigung 1960 e.V.“ . Diesem Treiben muss langsam ein Ende gesetzt werden. Es bieten sich in den Ländern unterschiedliche Möglichkeiten, die Politik auf einen konsistenten Weg der Argumentation zurückzuführen.

Wo Kompromisse aufgrund von Abstimmungen notwendig sind, müssen sie aus demokratischen Gründen eingegangen werden. Jeder muss nachgeben können. Demokratie ist aber nicht nur Abstimmung, also „Demokratur“ - sondern vorher zunächst eine unvoreingenommene Diskussion und Argumentation. Wenn aber wie in Nordrhein-Westfalen geschehen, der Verbleib bei G8 damit begründet wird, dass der Rückbau zu G9 zu teuer sei (was längst widerlegt ist), so ist das ein weiterer praktischer Widerspruch, da dasselbe Land mit Millionen Euros gerade die Umstellung auf ein zweigliedriges Schulsystem organisiert. Dieser Finanzaufwand ist insbesondere dort, wo sich Haupt- und Realschule und Gymnasium Tür an Tür auf einem Schulzentrum drängeln, die Umstellung auf Zweigliedrigkeit bestenfalls eine Türschildreform bedeutet, die reinste Geldverschwendung. Auch ein Widerspruch.

Prof. Dr. Rainer Dollase, Januar 2015

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