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Der verpflichtende Ganztag passt nicht zu den Arbeits­zeiten moderner Eltern.

In der Umfrage der Landeselternschaft der Gymnasien NRW e.V. (2016, publiziert März 2016, schriftlich September 2016) gab es ein deutliches Resultat: alle verpflichtenden Formen des Ganztags wurden schlecht benotet. Gut benotet wurden hingegen alle Vorschläge, in denen „Halbtagsschule“ oder „Vormittagsschule und Angebote am Nachmittag“ oder „offener Ganztag“ angeboten wurden.
Die Wünsche an die zeitliche Schulorganisation sahen im Einzelfall wie folgt aus:

  • Die beste Bewertung mit einer Note von 2,38 erhielt der Vorschlag „offener Ganztag“, d.h. „freiwilliger Ganztag mit Mittagessen in der Schule, AG Angebote in der Schule“.
  • Die schlechteste Bewertung erhielt der Vorschlag „gebundener Ganztag (d.h. verpflichtender) an jedem Tag“ mit einer Note von 4,99 – d.h. also „mangelhaft“.

Befragt wurden ca. 25.000 gymnasiale Eltern online und 1310 gymnasiale Eltern mit einer postalischen Zufallsbefragung. Die Ergebnisse der Online Befragung und der repräsentativen Befragung nach Zufallsauswahl unterschieden sich so gut wie nicht.

Hat die von Infratest Dimap für Bertelsmann durchgeführte Ganztagsstudie ein anderes Ergebnis erbracht?
Geradezu im medial-rezeptiven Widerspruch hierzu stand eine Umfrage der Bertelsmann Stiftung (publiziert im Sommer 2016), die in Medien als Unterstützung der Forderung nach gebundenen Ganztagsschulen interpretiert wurde. Eltern von gebundenen Ganztagsschulen seien mit ihrer Schule zufriedener als Eltern mit offener oder gar keiner Ganztagsregelung. Dieser Widerspruch muss aufgeklärt werden. Die Frage ist: „Was hat die Bertelsmann Studie 2016 im Unterschied zu der Umfrage der Landeselternschaft der Gymnasien NRW e.V. gemessen?“

Die „Bertelsmann Studie“ ist nicht von Bertelsmann durchgeführt worden, sondern die Stiftung hat das Institut „Infratest Dimap" in Berlin damit beauftragt. Die Auswertung zum Ganztag ist eine Teilauswertung einer allgemeinen Studie zur Schulzufriedenheit, die im Jahre 2015 durchgeführt wurde.

Infratest Dimap nutzt ein sogenanntes „Access Panel“. Ein Access Panel ist in der üblichen Sprache der Meinungsforschungsindustrie eine Stichprobe von Menschen, die sich irgendwann bereit erklärt haben, an Onlineumfragen teilzunehmen. Wenn sich dann eine konkrete Fragestellung ergibt, kann ein Institut auf deren Bereitschaft zurückgreifen. Das hat Infratest Dimap offenbar bei der Ganztagsstudie auch gemacht und insgesamt 4321 Eltern (ebenso wie bei der Umfrage der Landeselternschaft: überwiegend Mütter) aus allen 16 Bundesländern für die Befragung gewinnen können. Die Bertelsmann Auftraggeber teilen ansonsten keine methodischen Einzelheiten mit, sondern schreiben lapidar „für Datenerhebung, Gewichtung nach soziodemographischen Merkmalen und die Auswertung war Infratest Dimap verantwortlich.“ Diese Auskunft ist für eine wissenschaftliche Kritik zunächst einmal nicht ausreichend. Es wird zukünftig empfohlen, in den abschließenden Berichten mehr über methodische Fragen zu veröffentlichen, damit man die Relevanz oder Nichtrelevanz solcher Studien besser beurteilen kann.

Infratest wertet nun die Auskünfte von Eltern schulpflichtige Kinder im Alter von 6-16 Jahren aus, vermengt also Grundschule und Sekundarstufe und verschiedene Schulformen. Die Stichprobe ist also nicht mit der Befragung der Elternschaft der Gymnasien (online Studie und postalische Studie) vergleichbar. Es fehlt in der Infratest Dimap Studie auch eine schulformbezogene und eine gesonderte Auswertung nach dem Alter der Kinder.

Die Studie der Landeselternschaft hat eine wesentlich größere Stichprobe untersucht und beansprucht Repräsentativität für die Elternschaft der Gymnasien. Damit sind die Ergebnisse miteinander nicht vergleichbar. In einer zweiten online Studie hat die Landeselternschaft natürlich auch die Meinung von Grundschuleltern erfragt und zwar von 5900 Personen, also mehr als in der gesamten Infratest Dimap Studie.
Die Studie der Landeselternschaft ist aktuelleren Datums – die Erhebung fand von Februar bis März 2016 statt. Die Studie von Infratest Dimap fand ein Jahr früher statt.
Aus den bereits genannten Unterschieden ergeben sich klare Rückschlüsse darauf, dass die Daten der Infratest Dimap Studie nicht mit denen der Studie der Landeselternschaft übereinstimmen müssen.

Der wichtigste Punkt aber ist folgender: die Infratest Dimap Studie vergleicht die Meinung und Zufriedenheit von Eltern, deren Kinder eine Schule mit gebundenem Ganztag besuchen mit der Meinung von Eltern deren Kinder eine Schule mit offenem Ganztag oder eine Halbtagsschule besuchen. Dabei gibt es eine einen sogenannten Selbstselektionseffekt, der die Ergebnisse der Studie für die Frage, ob der verpflichtende Ganztag an Gymnasien weiter gefördert werden soll
oder nicht, wertlos macht.

Warum? Gebundene Ganztagsgymnasien müssen von der obersten Schul(aufsichts)behörde genehmigt werden. Es gibt staatliche Empfehlung für diese Schulform. Genehmigungen werden nur erteilt, wenn auch die räumlichen und personalen Voraussetzungen vorhanden sind. Die Einhaltung der Qualitätskriterien wird kontrolliert.

Ein Auszug aus den entsprechenden Vorschriften des Regierungsbezirks Düsseldorf für die Errichtung von Ganztagszügen: „Nachweis der erforderlichen Beteiligung von Schulausschuss und Schulkonferenz; ...verbindliche Erklärung des Schulträgers, dass der Ganztagsbetrieb zum beantragten Termin aufgenommen werden wird; Erklärung, welche Schule der entsprechenden Schulform mit Halbtagsbetrieb für die Schülerinnen und Schüler des Einzugsgebiet der für den Ganztagsbetrieb vorgesehenen Schule erreichbar wäre usw.“ - auch räumliche und personelle Voraussetzungen werden formuliert. Bei dem Errichtungsbeschluss wird also auch darauf geachtet, dass die Eltern die Wahl zwischen gebundenem Ganztag und Nicht-Ganztagsformen haben.

Die Infratest Dimap Studie belegt also, dass die Selbstselektion funktioniert: es gab eine freiwillige Anmeldung der Eltern, diese müssen sogar für ihr Kind die Möglichkeit haben, nicht unbedingt die Ganztagsschule wegen räumlicher Nähe besuchen zu müssen. D.h. also, die Daten zum verpflichtenden Ganztag stammen von Eltern, die sich freiwillig dafür entschieden haben, ihr Kind in eine Schule mit verpflichtendem Ganztag zu schicken. Sie hätten auch eine andere Möglichkeit gehabt, diese aber nicht ergriffen.

In der Meinungsforschung ist vollkommen klar, dass solche Selbstentscheidungen dazu führen, dass man das Modell auch gut findet bzw. gut finden muss, weil man sonst ja eine falsche Entscheidung getroffen hätte (commitment, kognitive Konsistenz u.a. psychologische Konzepte). Gleichzeitig ist die Einrichtung eines gebundenen Ganztagsbetriebs von den Lehrern, der Schulleitung, den Schulkonferenzen so entschieden worden, d.h. an den gebundenen Ganztagsschulen arbeiten nur Personen, die mit diesem Modell zufrieden sind und dieses Modell gewollt haben. Auch hier kann es dann nicht wundern, dass das Personal mit dem Modell zufrieden ist und diese Zufriedenheit sich auch im Alltag zeigt. Oder bei den Lehrkräften. „Des Menschen Wille ist sein Himmelreich“ - sagt das Sprichwort.

Was die Studie nicht belegen kann ist, ob auch Eltern, die keinen verpflichtenden Ganztagsbetrieb wollen, mit einer gebundenen Ganztagsschule zufrieden wären. Dazu hätten besondere Fragen eingestellt werden müssen.

Die Infratest Umfrage gibt also Auskunft, ob die Errichtungskriterien für den verpflichtenden Ganztagsbetrieb eingehalten worden sind. Deswegen wird auch nach Räumen, nach Lehrern etc. gefragt – alles Themen, die mit der grundlegenden Entscheidung, ob man einen verpflichtenden Ganztagsbetrieb haben möchte oder nicht, überhaupt nichts zu tun haben. Niemand wird also das Ergebnis bestreiten: wenn man ein zielgruppenspezifisches Angebot macht, kann das Eltern zufrieden stellen. Aber die anderen?

Auch in der im Vergleich zur Infratest Umfrage riesigen Stichprobe (d.h. zehnmal so hohen Umfragebeteiligung) der Landeselternschaft NRW e.V. konnte man einen ähnlichen Vergleich zwischen Eltern, die ihr Kind an einem gebundenen Ganztagsgymnasium bzw. einem offenen bzw. Halbtagsgymnasium beschulen lassen, durchführen. Dabei kommt eindeutig heraus, dass Eltern, deren Kind an einem gebundenen Ganztag beschult wird, diesen gebundenen Ganztag genauso wenig positiv beurteilen wie die anderen Eltern. Vermutlich hatten sie keine andere Betreuungswahl. Einen kleinen Unterschied gibt es: Eltern mit Kindern an einem gebundenen Ganztagsgymnasium beurteilen den gebundenen Ganztag zu 41% mit der Note „sechs“, also „ungenügend“, während die anderen den gebundenen Ganztag zu 57% mit der Note „sechs“ also ungenügend beurteilen. Rund 20% der gebundenen Ganztagseltern finden den gebundenen Ganztag also weniger „ungenügend“ - toll.

Meinungsforschungsinstitute arbeiten selbstverständlich sorgfältig und vernünftig. Für die Interpretation der Daten und Ergebnisse und die methodenkritischen Erläuterungen unter Anwendungsgesichtspunkten sind sie allerdings nicht zuständig, sondern die Auftraggeber, also hier die Bertelsmann Stiftung. Unangenehm an vielen von Stiftungen finanzierten Untersuchungen ist der mangelnde Bezug zu wissenschaftlichen und kritischen Interpretationen. Stellenweise wird die moderne Forschung zum Thema nicht berücksichtigt bzw. ausgeschlossen.

Die moderne Arbeitszeitflexibilisierung - das Aus für den gebundenen Ganztag
Innerhalb der interdisziplinären Zeitforschung gibt es seit ungefähr 20 bis 30 Jahren eine Debatte über die Flexibilisierung der Arbeitszeiten als Folge der Globalisierung und als Folge von gewandelten Produktionsverhältnissen (z.B. Dollase, Hammerich und Tokarski, 2000). Auch zahlreiche empirische Daten zur Flexibilisierung der Arbeitszeiten von Eltern liegen vor. Ein typisches Missverständnis ist, dass man unter Flexibilisierung der Arbeitszeiten in der Öffentlichkeit nur versteht, dass man morgens Gleitzeit hat und nachmittags auch. Dem ist in der Realität schon lange nicht mehr so.
Die Wandlungen der Elternarbeitszeit haben gewaltige Auswirkungen auf die Bedürfnisse nach der Art längerer tageszeitlicher Beschulung. Die Mainstreamdiskussion geht von dem altmodischen „nine to five“ Arbeitszeitmodell aus - die Gefahr einer Fehlplanung „am Bedarf vorbei“ besteht schon länger.

Im Jahre 2012 haben von 100 Unternehmen 84 Teilzeit angeboten, 73 individuelle Arbeitszeiten, 63 flexible Tages- und Wochenzeiten, 51 Vertrauensarbeitszeiten, 20 flexible Jahres- und Lebensarbeitszeiten, 21 Telearbeit. In destatis kann man lesen, dass im Jahre 2014 Eltern mit Kindern ab sechs Jahren zu 61% Vollzeit und zu 39% Teilzeit gearbeitet haben. Bei Frauen ist das entsprechende Verhältnis 34% Vollzeit und 66% Teilzeit. Ebenfalls bei destatis kann man nachlesen, dass die Erwerbsquote der Mütter allgemein 45% ist und die Erwerbsquote der Väter 83% (Daten aus 2014). Auch in absoluten Zahlen muss man sich vergegenwärtigen, dass im Jahre 2016 1.617.242 Menschen in Teilzeit gearbeitet haben. Die Hans-Böckler-Stiftung rechnet für „atypische Jobs“ (Mini-Jobs, Leiharbeit, Teilzeitarbeit) für Nordrhein-Westfalen mit 39% - 41%.
Bei destatis findet man für das Jahr 2010, dass 36% der Beschäftigten in flexiblen Arbeitszeitmodellen ihr Geld verdienen: 26% arbeiten am Wochenende, 14% am Sonntag und 26% abends (2014).

In eigenen Studien in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen haben wir Eltern mit Kleinkindern einen vollständigen Stundenplan, der täglich von 7:00 Uhr bis 21:00 Uhr reichte, auch am Samstag und Sonntag, vorgelegt und die Eltern sollten ankreuzen, wann sie auf Betreuung angewiesen sind. Dabei ergab sich, dass auch nach 16 Uhr, auch samstags und sonntags um 21:00 Uhr noch Betreuungsbedarf existiert. Kein Wunder: es gibt heute jede Menge Berufe, in denen Schichtarbeit und die Arbeit zu ungewöhnlichen Zeiten notwendig ist. Ergebnis war, dass in Nordrhein-Westfalen mit 34 Stunden Öffnungszeit einer Kita 50,9% der Eltern zufrieden gestellt
werden und mit 44 Stunden nur 73%, das heißt, es bleiben 27% übrig, die trotz einer erweiterten Öffnungszeit auf 44 Stunden bezüglich der öffentlichen Betreuung von Kindern frustriert werden.

Warum werden also möglicherweise bei den gymnasialen Eltern verpflichtende Ganztagsgymnasien so deutlich abgelehnt? Es ist sehr wahrscheinlich, dass die modernen Arbeitszeiten derartig flexibel sind, dass eine Ganztagsschule, die sich an den herkömmlichen „nine to five“ Arbeitszeiten der Vergangenheit orientiert, an den Wünschen der Eltern vollständig vorbei geht. Die Annahme einer klassischen und traditionellen „nine to five“ Arbeitszeit der Eltern ist eine typische Idee aus dem 20. Jahrhundert und wirkt heute antiquiert. Sie führt auch bei der Beurteilung von Eltern, die sich gegen den gebundenen Ganztag aussprechen, zu völlig falschen Schlussfolgerungen: diese Eltern tun das nicht aufgrund einer konservativen („ewig gestrigen“ :-) Orientierung, sondern einfach deshalb, weil bei einem flexibilisierten Arbeitsalltag eine regelmäßige „nine to five“ Verpflichtung ihres Kindes sämtliche Möglichkeiten zerstört, irgendetwas mit dem Kind zusammen zu unternehmen bzw. überhaupt mit ihm zu sprechen.

Ein Polizist und eine Krankenschwester - beide mit Wechselschicht- sind nicht mehr in der Lage, irgendein häusliches Leben zu organisieren, wenn die Kinder auch noch von 8:00 bis 16:00 Uhr jeden Tag in der Schule gebunden werden. Eine Mutter, die bei der Telekom in der Kundenbetreuung arbeitet und schon mal am Wochenende etwas tun muss, der Vater muss bei Miele zu einer Fortbildung von Freitag bis Sonntag und bekommt dafür an anderen Wochentagen frei – auch in diesem Fall ist ein verpflichtender Ganztag eine empfindliche Störung von allem, was in unserer Gesellschaft für Eltern sinnvoll ist.

Fazit: Der gebundene und verpflichtende Ganztag ist an den Gymnasien eindeutig deplatziert – aus Gründen der Arbeitszeitflexibilisierung kann für moderne Schulen nur der offene Ganztag infrage kommen, damit das Familienleben nicht vollständig zerstört wird. Dieses eindeutige, empirisch gesicherte Fazit verkennt nicht, dass es belastete Familien in den Slums unserer Städte gibt, für die eine verpflichtende Ganztagsbetreuung der Kinder wichtig wäre. Oder – für klassisch von 9 Uhr bis 17 Uhr arbeitende Eltern kann ein freiwilliger „gebundener Ganztag“ (der dann ja gar keiner mehr ist) eine zielgruppenspezifisch sinnvolle Strategie der Bildungspolitik sein.

Prof. Dr. Rainer Dollase, Universität Bielefeld, 10. Oktober 2016

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